1. Das leidige Thema "Untergrundaufschlüsse"
1.1 Der normgemäße Umfang von Untergrundaufschlüssen
Die einschlägigen Normen (Eurocode 7) regeln Art, Umfang und Tiefe von Untergrundaufschlüssen. Abhängig vom Schwierigkeitsgrad der (geotechnischen) Randbedingungen bzw. der Größe des geplanten Bauvorhabens erfolgt die Einteilung in geotechnische Kategorien. Je nach Kategorie und Fragestellung werden entsprechende Aufschlussmaßnahmen empfohlen.
Diese prinzipielle Überlegung wird auch jedem Laien zunächst schlüssig, nachvollziehbar und sinnvoll erscheinen. Hinterfragt wird die Sinnhaftigkeit normgemäßer Untergrundaufschlüsse meist erst dann, wenn der Bauherr erfährt, welche Kosten für eine derartige Erkundung des Baugrundes anfallen werden.
Würde ein Geotechniker auf einer normgemäßen Hauptuntersuchung als Basis für seine Planungsleistung bestehen, dann würden die Aufträge wahrscheinlich nicht gerade in rauen Mengen ins Haus flattern. So ist der Umfang von normgemäßen Baugrundaufschlüssen beispielsweise im gemeinnützigen Wohnbau in der Regel wirtschaftlich nicht vertretbar.
1.2 Der Umfang von Untergrundaufschlüssen aus Sicht des Bauherrn
Es gibt leider viele Bauherrn bzw. Auftraggeber, denen jegliches Verständnis für die Erforderlichkeit von Untergrundaufschlüssen fehlt. Aussagen wie „Für Schürfungen haben wir keine Zeit, wir brauchen nur ein schnelles geotechnisches Gutachten zur Bodenbeschaffenheit.“ oder „Der Boden wird sich mit der Tiefe doch nicht mehr ändern?“ gehören zum Alltag eines Geotechnikers. Oft stellt bereits der Versuch des gemeinsamen Erarbeitens eines bei Weitem nicht normgemäßen Aufschlussprogramms einen Spießrutenlauf dar. Gerne wird von Auftraggeberseite in diesem Zusammenhang von „vergrabenem“ Geld gesprochen.
Der Geotechniker ist in einem solchen Fall gut beraten, sich nicht zum Verzicht auf Aufschlüsse drängen zu lassen. Andernfalls sind erst recht entstehende Mehrkosten oder gar Schäden im Zuge der Bauführung in der Regel vorprogrammiert.
1.3 Der sinnvolle und wirtschaftlich tragbare Umfang von Untergrundaufschlüssen
Für den geotechnischen Sachverständigen gilt es daher, eine regelrechte Gratwanderung zu meistern. Der Weg hin zu einem sinnvollen Aufschlussprogramm, das für den Bauherren wirtschaftlich tragbar ist und gleichzeitig die erforderlichen Inputs für die weiteren geotechnischen Planungsleistungen liefert, ist meist ein steiniger.
2. Der reduzierte Untersuchungsumfang und seine Folgen
2.1 Das unkalkulierte bzw. unkalkulierbare Risiko
Mit dem „unkalkulierten Risiko“ wird – wie der Name schon sagt – nicht gerechnet, es tritt unerwartet und ungeplant auf. Es ist die Konsequenz davon, dass der Umfang der Untergrundaufschlüsse auf Drängen des Bauherrn oder aufgrund mangelnder Erfahrung des Geotechnikers auf ein Minimum reduziert wurde, oft in Kombination mit mangelnder Baubegleitung sowie fehlender messtechnischer Überwachung der Grundbaumaßnahmen.
Denn – so sehen es manche Bauherren – mit Abgabe seiner Stellungnahme bzw. seiner Planungsleistung hat der Geotechniker seine Schuldigkeit getan, seine Expertise ist nicht mehr gefragt. Schließlich kostet sie ja Geld.
2.2 Das kalkulierte Risiko
Das Erstellen eines geotechnischen Gutachtens auf Basis einer normgemäßen Aufschlusskampagne und ohne Rücksicht auf die Kosten ist meist auch für einen weniger erfahrenen Bodenmechaniker eine lösbare Aufgabe. Hier aber trennt sich die Spreu vom Weizen. Denn ein guter Geotechniker wählt ein auf die jeweilige Fragestellung abgestimmtes Aufschlussprogramm, das den Kostenrahmen des Bauvorhabens nicht sprengt und dennoch alle für die weitere geotechnische Bearbeitung relevanten Inputs liefert.
Auch bei der weiteren Projektabwicklung ist Fingerspitzengefühl bei der Bemessung gefragt. Die gewählten Eingangswerte sollten außerdem im Zuge der Bauausführung messtechnisch kontrolliert werden (Beobachtungsmethode).
Im Grundbau-Taschenbuch Teil 3 [1] findet sich zu dieser Thematik folgende Ausführung von Brandl:
„Bei der Dimensionierung von Hangsicherungen sollte man sich stets darüber im Klaren sein, dass hier sowohl im statischen System als auch im Baustoff (Boden, Fels) eine wesentlich größere Problematik liegt als in anderen Sparten des Ingenieurbaus. Gerade im Grund- bzw. Erdbau, wo die Materialeigenschaften ohnehin stärker streuen als bei künstlichen Baustoffen, wird aber noch dazu mit kleineren Sicherheitsfaktoren gerechnet, weil ansonsten viele Bauwerke aus wirtschaftlichen Gründen undurchführbar wären.“
Brandl empfiehlt daher die Methode der semi-empirischen Dimensionierung und führt dazu Folgendes aus:
„Standsicherheitsuntersuchungen von hohen Böschungen und Anschnitten in heterogenem Untergrund oder verwittertem, klüftigem Fels werden weniger durch die Wahl der Berechnungsverfahren, sondern vielmehr von den Annahmen über Boden- bzw. Felskennwerten und die Sickerwasserverhältnisse beeinflusst. […] Vielmehr muss […] mit „kalkuliertem Risiko“ gearbeitet werden, […]. Die Möglichkeit eventueller Verstärkungsmaßnahmen muss daher bereits im Planungsstadium berücksichtigt werden […].
Die Grundlage dieser semi-empirischen Dimensionierung, welche zunächst von plausibel ansehbaren Berechnungen auszugehen hat, bilden umfangreiche Messungen und Kontrollen am Stützbauwerk und
im Gelände von Baubeginn an (z. B. geodätisch; Ankerkräfte; Extensometer und Inklinometer).“
3. Die Beobachtungsmethode
Die Reduktion von Untergrundaufschlüssen und das Arbeiten mit einem „kalkulierten Risiko“ setzen somit den – ebenfalls in Eurocode 7 geregelten – Einsatz der Beobachtungsmethode voraus. Durch eine geotechnische Messüberwachung und eine entsprechend intensive Baubegleitung können in der Berechnung angenommene Kennwerte und Grenzzustände in situ überprüft werden. Neben der Fixierung von entsprechenden Grenzwerten sieht die Beobachtungsmethode auch einen „Notfall- oder Schreibtischschubladenplan“ vor, welcher vor Eintreten eines Grenzzustandes umgesetzt werden kann. Das rechtzeitige Erkennen der Annäherung an einen Grenzzustand wird durch ein entsprechendes Monitoring sichergestellt.
Im Handbuch der Geotechnik [2] ist dazu Folgendes zu lesen:
„Im Zuge des nun gültigen Eurocode 7 kommt den Messverfahren insofern noch einmal eine größere Bedeutung zu, als dass die sogenannte Beobachtungsmethode als Verfahren zur Erfassung von Grenzzuständen im Untergrund auf eine Ebene mit z. B. rechnerischen Nachweisverfahren gestellt wurde.“
4. Projektstruktur und -beteiligte
Entscheidende Faktoren beim Arbeiten mit „kalkuliertem Risiko“ sind die Projektstruktur und die am fraglichen Projekt Beteiligten. Daher sollte der Geotechniker eindeutige Auftragsverhältnisse anstreben. Im Idealfall erfolgt eine direkte Beratung des Bauherrn, sodass die erforderlichen Risikoeinschätzungen und damit verbundenen Entscheidungen auch von dessen Seite mitgetragen werden. Denn die Reduzierung des Erkundungsumfangs und die wirtschaftliche Bemessung unter dem Gesichtspunkt eines „kalkulierten Risikos“ setzen eine enge Kommunikation zwischen den einzelnen Projektbeteiligten voraus.
Zu Komplikationen kommt es meist dann, wenn die Kommunikation nicht geradlinig ist, sondern über mehrere Ecken läuft. So haben beispielsweise Konstellationen, in denen der Geotechniker als Subplaner eines Statikers agiert und kein direkter Kontakt mit dem Bauherrn besteht, ihre Tücken. Meist gehen auf dem Weg dieser „Stillen Post“ zwischen Geotechniker und Bauherrn die relevanten Informationen, die erforderlich sind, um mit einem „kalkulierten Risiko“ arbeiten zu können, verloren. Je mehr Parteien in dieser Kommunikationskette zwischengeschaltet sind, umso problematischer sind die Auswirkungen in der Praxis.
In Kombination mit dem eingangs beschriebenen oft fehlenden Verständnis für die Erforderlichkeit von Untergrundaufschlüssen erschwert das die Arbeit des Geotechnikers erheblich. Derartige Projektkonstellationen sorgen oft für Missverständnisse und bergen ein enormes Konfliktpotential für die Beteiligten. Daher empfiehlt es sich, in die Überlegungen zur Risikobewertung und Wahl des geotechnischen Lösungsansatzes auch die Projektkonstellation mit einfließen zu lassen, um etwaigen späteren Kontroversen vorzubeugen.
5. Zusammenfassung
Aus den vorstehenden Überlegungen kann also der Schluss gezogen werden, dass es unter gewissen Umständen durchaus möglich ist, auch mit reduzierten Untergrunderkundungen seriöse Lösungsansätze zu entwickeln. Erfolgt innerhalb des Projektteams eine direkte Kommunikation zwischen Geotechniker und Bauherrn und besteht bei Letzterem die Bereitschaft, ein gewisses „kalkuliertes Risiko“ mitzutragen, so lässt sich in der Regel ein wirtschaftlich vertretbarer Kostenaufwand für den geotechnischen Aspekt eines Bauvorhabens finden.
Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist die Anwendung der Beobachtungsmethode, die dazu dient, die angesetzten Kennwerte und Grenzzustände zu kontrollieren. In der Regel gelangt man auf diese Weise zu Lösungen, die wesentlich wirtschaftlicher sind als eine Planung mit „absoluter Sicherheit“, wie normgemäße Aufschlüsse sie suggerieren. Ungünstige Projektkonstellationen können diese Art der konstruktiven Zusammenarbeit erschweren, weshalb gegenseitiges Vertrauen und Akzeptanz zwischen Bauherrn und Geotechniker unerlässlich sind.
Im Lichte der obigen Überlegungen erhält der Begriff „vergrabenes Geld“ eine neue Bedeutung. Ist es doch gerade den als „sinnlos“ und „teuer“ verteufelten Untergrundaufschlüssen und einer intensiven baubegleitenden geotechnischen Betreuung zu verdanken, dass kein Geld für Mehraufwand oder gar Schäden im Zuge der Bauführung „vergraben“ werden muss.
Autor:
Dipl.-Ing. (FH) Clemens Lercher
Quellen:
[1] Karl Josef Witt (Hrsg.) (2018): Grundbau-Taschenbuch; Teil 3: Gründungen und geotechnische Bauwerke; 8. Auflage
[2] Conrad Boley (Hrsg.) (2012): Handbuch der Geotechnik; 1. Auflage